Von Bewertung zu Mitgefühl
Wir alle kennen diese Momente: Das Herz verschließt sich, die Stirn runzelt sich, innerlich beginnt ein Monolog der Verurteilung:
Wie kann er nur so egoistisch sein?
Warum versteht sie nicht, dass ihr Verhalten unangebracht ist?
Ein Schlüssel zur Auflösung solch schwieriger Momente liegt im Mitgefühl – doch wie schaffen wir es wirklich, anderen Menschen mit Mitgefühl zu begegnen?

Wenn wir “zu” machen
Wir alle erleben immer wieder Reibung, Projektionen und Unverständnis in unseren Beziehungen zu anderen.
Jemand drückt unsere Knöpfe, und plötzlich finden wir uns in Situationen wieder, in denen es unglaublich schwer ist, echtes Mitgefühl zu empfinden – besonders für Verhaltensweisen, die wir nicht verstehen, die uns nerven oder die wir schlichtweg als „falsch“ betrachten.
Wir beginnen innerlich über die Person zu urteilen:
Warum sieht er nicht, wie unpassend sein Verhalten ist?
Wie kann sie nur so unverantwortungsvoll handeln?
Vielleicht verlieren wir uns sogar in diesen Gedanken, vielleicht kommen immer mehr dazu.
In solchen Augenblicken scheint unser Mitgefühl fern und unerreichbar. Dabei sehnen wir uns gleichzeitig selbst danach, verstanden zu werden. Wie schaffen wir es also wirklich, andere Menschen in unser Mitgefühl einzuschließen?

Der Hintergrund
Was wir in solchen Momenten oft übersehen: Hinter jedem Verhalten verbirgt sich ein tieferer Hintergrund – eine Sehnsucht, ein Wunsch oder ein unerfülltes Bedürfnis.
Wenn wir nur das äußere Verhalten eines Menschen betrachten, laufen wir Gefahr, sein innerstes Wesen zu übersehen. Wir sehen die Fassade, aber nicht das, was dahinter liegt.
Statt zu urteilen, könnten wir uns oder unser Gegenüber fragen:
Was steckt dahinter?
Was bewegt dich da so sehr?
Warum macht dich das wütend?
Wenn du in dich hinein spürst, was wünscht du dir da gerade eigentlich?
Wenn wir beginnen, nach diesem Hintergrund zu forschen und echte Neugierde für den anderen entwickeln, entsteht in uns eine innere Offenheit. Unser verengtes Bild von Unverständnis und Ablehnung weitet sich. Es erwacht in uns der Wunsch, den anderen tiefer zu erkennen und zu verstehen.

Mitgefühl im Leben verankern
Um wahres Mitgefühl zu entwickeln, reicht es nicht, einfach so zu tun, als wären wir liebevoll und offen. Solche Oberflächlichkeit schafft keine echte Resonanz und kein Gefühl der Sicherheit – weder für uns noch für andere, weil wir es nicht wahrhaftig fühlen.
Was wir stattdessen brauchen, ist eine innere Haltung, die nach tieferem Erkennen strebt.
Eine Haltung, die Verständnis hat für die grundlegenden Sehnsüchte des Menschseins.
Eine Haltung, die versteht, dass dahinter eine tiefere Ebene der Begegnung liegt.
Echtes Mitgefühl beginnt mit einem Moment des Innehaltens, wenn wir urteilen. Es ist die bewusste Entscheidung, uns zu fragen:
Welche Not, welcher Schmerz oder welcher Wunsch steckt hinter dem Verhalten?
Mitgefühl ist eine Lebenspraxis, die wachsen will und ihre Zeit braucht.
Denn um Mitgefühl mit anderen zu empfinden, braucht es zunächst die Bereitschaft, in uns selbst jene Teile zu umarmen, die wir als schwach oder unzulänglich bewerten, die einen Schmerz, eine Sehnsucht oder ein Bedürfnis in sich tragen.
In diesem Raum der Selbstakzeptanz – wo wir unsere eigenen Schatten nicht länger verleugnen müssen – entsteht die Fähigkeit, auch in anderen das Unvollkommene, das Ringende, das zutiefst Menschliche zu sehen und mit offenem Herzen anzunehmen.
Nur dann begegnen wir wirklich mit Mitgefühl.
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